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Unterschiedliche Rituale im Kampfsport und im Budo

Rituale – Bedeutung für Erziehung und Selbsterziehung im Budo

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Rituale gibt es oft auch in der Kampfkunst oder dem Kampfsport und im Budo. Dabei handelt es nicht nur um Begrüßungen, sondern auch um Wertevermittlung innerhalb einer Gruppe.

Anders als bloße Regeln, die als verbindliche Richtlinien das rechte Verhalten zur Einhaltung von Normen in einer Gruppe organisieren, sind Rituale komplexere tradierte Handlungsabläufe zur Vermittlung von Sinn, Überzeugungen, übergeordneten Zielen und „Ordnung“ der Gemeinschaft Gleichgesinnter. Sie haben somit in der systematischen Pflege von Tradition nicht nur folkloristischen, sondern vor allem auch „leitenden“, erzieherischen Charakter.

Ethnien und Gesellschaften und (Sub-)Kultur praktizieren ihre formalisierten Rituale in der Übereinkunft etablierter Handlungsmuster, die – wie auch immer sinnstiftend – den Zusammenhalt der Mitglieder und das Miteinander der mit den darin symbolisierten Werten identifizierten Menschen formal ordnen und durch vorgegeben Verlauf „erleichtern“.

Was sind Rituale?

Rituale symbolisieren und stabilisieren Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Norm, Gesetz, Sitte und alle übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten einer spezifischen Kultur oder Gruppe und stellen einen gemeinsamen Bezugsrahmen für Routinen, Interaktionen, auch Handeln, Denken und Fühlen und sowie, wichtig, Möglichkeiten (und Pflichten) der Teilhabe aller Dazugehörigen dar. Rituale prägen das Zusammensein in Alltag und Sondersituationen durch stete Wiederholung, Steuerung von Erwartung und Handlungssicherheit, erneuern bzw. aktualisieren bedeutsame Werte-Übereinkünfte und festigen somit Strategien für Gegenwartsbewältigung und einheitliche Zukunftsvision, stiften Selbstverständlichkeit und Verbindlichkeit.

Bekannte Begrüßungsrituale

Wir alle kennen die bei uns üblichen Begrüßungsrituale, die sich zeit(geist)gemäß natürlich auch „modern“ weiterentwickeln (vom Diener und Knicks zum Händeschütteln, entsprechend der aktuellen „Sitten und Gebräuche“ oder „Manieren“ (nach Knigge), Rituale bei Geburtstagen, Jubiläen, Examina und innerhalb der Familien in Rhythmisierung des Jahres an Ostern und Weinachten, oder bei Mahlzeiten und beim Zubettgehen. Das Leben, der Alltag und auch der Tod wird ritualisiert „behandelt“ (und so „verarbeitet“) in Trauerfeier, Begräbniszeremonie und Pflege der Grabstätte.

Weitere Rituale

Wir kennen unzählige, verschiedene und divergierende Übergangs-, Schwellen- und Initiationsriten (z.B. eine Prüfung und Anfangssetzung an der Schwelle vom Jugend- zum Erwachsenenalter, vom Lehrling zum Meister oder vom Studiosus zum Doktor, auch oft verbunden mit Mutproben), geheime Freimaurer- und Burschenschaften-Rituale, kirchliche und religiöse und spirituelle Rituale (Gottesdienste, Exerzitien und Exorzismus), schamanische Heilrituale, Weiße und Schwarze Magie, zeremonielle Zaubersprüche und Voodoo. Es gibt auch speziell in Pädagogik als besonders hilfreich erachtete Rituale (Kindergarten, Schule) oder gar professionell psychotherapeutisch „eingebaute“.

Rituale im Budo

In den asiatischen Kampfkünsten als (buddhistisch initiierte) „Weg“-Schulen der „Friedvollen Krieger“ (hier jap. Budo: „Nicht-Kampf-Weg“) werden in Theorie und Praxis der Lehre eigene, typische, d.h. „eigentümliche“ Regeln, Routinen, Rollen und Rituale gepflegt. Sie dienen der Weg-Orientierung zum „Höheren Ideal“ (Wertschätzung, Nächstenliebe, Achtsamkeit, Bewusst-Sein) und Erarbeitung von „Meisterschaft“.

Ihre exotische (weil sehr seltene) Sonderstellung im Kontext der dagegen weitverbreiteten modernen Kampfsportarten führt nicht selten dazu, dass ihre traditionellen Lehrstätten (Budo-Dojo) dem negativ gemeinten Vorwurf einer „Sekte“ ausgeliefert sind. Allerdings ist rein definitorisch dies eine „Bezeichnung für eine religiöse, philosophische oder politische Richtung und ihre Anhängerschaft“ (wikipedia). Die Bezeichnung bezieht sich demnach auf „Gruppierungen, die sich durch ihre Lehre oder ihren Ritus von vorherrschenden Überzeugungen unterscheiden und oft im Konflikt mit ihnen stehen“ (ebd.) – was ja stimmt.

Denn im Budo geht es um inneres Wachstum, und nicht (wie im Wettkampfsport) um äußere Leistung, um den intensiven, ganzheitlichen Prozess der Arbeit am Selbst, und nicht das Ergebnis von messbarem und vergleichbarem Erfolg, um spirituelle Weiterentwicklung auf dem Weg (Geist), und nicht den technischen Sieg über irgendwelche Gegner (Körper). Budo und Kampfsport sind damit in der Übung und den Zielen völlig konträr und absolut unvereinbar. Insofern ist der „Sektenvorwurf“ eigentlich richtig, da er klarstellt, dass zwischen der Weg-Lehre der Kampfkünste bzw. den Budo-Dojo und dem Kampfsport und entsprechendem leistungsorientiertem Wettkampf-Training eben besagter, unauflösbarer Konflikt besteht, inklusive gegenseitiger Ablehnung der jeweils andersartigen Konzepte durch die Vertreter der Systeme.

Die im Budo praktizierten Rituale kommen im Kampfsport auch nicht vor, allenfalls rudimentär floskelhafte, inhaltsleere und bedeutungslose Folklore, die in ihrer absurd anmuten Inszenierung nichts mit den originären Riten, ursprünglich philosophisch-religiös „beseelt“, daher auch gar nichts mehr zu tun haben. Sie sind für die Ausübung des Kampfsports unnützes Beiwerk und dort auch eher hinderlich, sich auf das gezielte Technik- Training zur Steigerung von Leistung zu konzentrieren.

Dass sich dennoch reine Sportclubs und -Stilrichtungen gern mit „Budo“-Etikett und den traditionellen Werten und nachgewiesenen positiven Wirkungen auf Persönlichkeit und Sozialverhalten schmücken, ändert nichts an der in Wahrheit bestehenden Unvereinbarkeit von Kampfsport und –kunst und der das jeweilige Wesen „pervertierenden“ Gleichmacherei, v.a. durch sportpolitische Motive (Werbung) der großen Sportverbände.

Die Budo Geste „Gassho“

Die im Budo (und Zen) bedeutsame Geste „Gassho“, die buddhistische Begrüßungsgeste mit zusammengelegten Handinnenflächen vor der Brust, dem „Herz-Chakra“ (entsprechend dem Mudra „Namaste“, „Gott in Dir“) und die darin offenbarte Haltung „Von meinem Herz zu Deinem Herz“, also in der „Zu-Neigung“ die innere Überzeugung von spiritueller Verbindung („Liebe“) ausdrückt, ist im Kampfsport zu einer Floskel der sportlichen Begrüßung zweier Gegner vor dem Wettkampf verkümmert, zu einem kurzen Kopfnicken, zuweilen mit „militärischem“ Mit-den- Händen- auf-die-Beine-klatschen. Ohne tiefere Bedeutung.

Dieses Budo-Ritual aber, eingebettet in die spezielle Etikette „Reiho“ (Systematik der budotypischen Manieren), ist ein zentrales Lehrkonzept des Sich-Übens in Respekt, Demut, Zuneigung, der Würdigung des Wertes Anderer, mit denen man – philosophisch betrachtet – untrennbar als „Eins“ verbunden ist. Es ist Lernen und Annehmen, Ausdrücken und Bekräftigen der inneren Haltung friedvollen Geistes, des Gewaltverzichts, der Nächstenliebe, zumindest Bekenntnis des echten Bemühens darum.

Recht verstanden ist Gassho auch keine Verbeugung: Eine im Gassho und im Niederknien (Seiza) ausgedrückte Zu-Neigung ist was völlig anderes als die (sprachlich oft falscherweise synonym verwendete) Ver-„Beugung“: das Eine ist die aufrechte (körperlich und geistig auf- “richtige“) Begegnung von Herz-zu-Herz, in Demut und Größe (Würde), Ausdruck emotionaler Verbundenheit, von Gleich-zu-Gleich, während das Verbeugen, Sich-Verbiegen, -Krumm-machen und -Klein doch eher einer Unterwerfung, einer Selbst-Erniedrigung gleichkommt; nichts würdevoll Ehrwürdiges. Es ist, wie Konfuzius sagte:

”Der Edle verneigt sich, aber beugt sich nicht”.

Die Budo-Etikette sieht außer Regeln bzw. Ge- und Verbote (z.B. sauberer Körper, saubere Kleidung, Ordnunghalten, keine Gespräche im Dojo führen, Höflichkeit gegenüber Mitschülern, Meistern und Gästen, Putzen des Dojo vor und nach dem Unterricht) und Rollen (z.B. Fortgeschrittene als Tutoren für Neue, graduierungsentsprechende Privilegien und Pflichten der Schüler, Aufgaben im Lehrteam der Übungsleiter, Trainer, Lehrer, Lehrmeister) v.a. spezielle Rituale vor, die regelmäßig bei bestimmten Anlässen zelebriert werden.

Sie dienen der Veranschaulichung der entscheidenden Werte und Normen des Budo und des konkreten Dojo, der Ausbildungsinhalte und -ziele und der Förderung der Identifikation der Ausübenden damit. Ferner rhythmisieren sie das Lernjahr (durch regelmäßige Feste und Aktivitäten der Gemeinschaft der Gleichgesinnten) und den Fortschritt auf dem „Weg“ (durch Graduierungen). Sie fördern und festigen die Orientierung an der Budo-Lehre im Allgemeinen und das Bemühen um die eigene Weiterentwicklung im Besonderen. Und sie stabilisieren durch fortlaufende „Erinnerung“ und stete Wiederholung das Wissen, Können und Verstehen des im Budo Wichtigen sowie das Streben nach Vertiefung und Vervollkommnung.

Rituelle Übungen

Die rituellen Übungen, insbesondere die Formen des rechten Grußes (Gassho) helfen bei der Entwicklung zur rechten Hingabe an die gemeinsame Sache: Kultivierung des Geistes. Im Praktizieren von Wertschätzungsritualen wächst die innere Verbindung zu den Idealen, das Erfassen des eigentlichen Sinns – und am Ende auch die eigene Zustimmung und Identifikation, die Übernahme der „Kunst“, in der rechten äußeren und inneren Haltung seine Gefühle, sich selbst angemessen und (durch Übereinkunft der Bedeutungsinhalte) verständlich ausdrücken zu können.

Budotypische Rituale vermitteln durch Übung eigene Inhalte. Im Wesentlichen beziehen sie sich zunächst auf Achtsamkeit (bei der Durchführung) und im eigentlichen Sinne auf die Vermittlung von Wertschätzung und Würdigung und am Ende die Übernahme besonderer Werte (Friedfertigkeit)i. Diese Selbsterziehung durch kontinuierliche, immerwährende Praxis disziplinierter Selbstbeherrschung eröffnet – wie eine eigene Sprache – eine neue Ausdrucksmöglichkeit, v.a. der Mitteilung „innerer“ Bedeutungsinhalte, also innerer Haltung durch äußere Haltung (Shisei). Äußerlich aufrecht – innerlich aufrecht. Das ist die „Kriegerhaltung“: Würdevoll, stolz, stark, „bereit“ – ehrlich, prinzipientreu, großzügig. Ganz und gar, in voller Größe und „Offenheit“, für sich und die Sache stehend, verwundbar.

Innere & äußere Haltung

Budo-Rituale zur Einübung der rechten inneren und äußeren Haltung stärken, „richten auf“, „machen groß“, helfen „sich gerade zu machen“ für eigene Dinge, das Leben. Denn „die exakte Übung der ‚richtigen‘ körperlichen Haltung unterstützt als ‚somatischer Marker‘ (…) die neuronalen Bahnungen hinsichtlich persönlicher Entwicklungs- und Veränderungsprozesse“ ii. Körper schult Geist – der Inbegriff körpertherapeutischer Konzepte, die im Budo seit eh und je angelegt sind. Kein Wunder, kommt diese Erkenntnis aus dem Yoga (Sanskrit: „Verbindung, Vereinigung“), der Übung von Körper und Geist, dem philosophisch-spirituellen wie „technischen“ Ursprung der fernöstlichen Kampfkünste (KallaripayatuKung FuBudo).

Körper-, Haltungs- und Bewegungsschulung ziel(t)en in Asien und Orient stets mehr auf geistig-seelische, „innere“, psycho-emotionale Prozesse ab, als auf rein äußerlich-physische, wie sie erst im Westen un- und missverstanden und durch leistungsorientiertem statt spirituell-weltanschaulichem Denken Sinn-entleert pervertiert wurden. Budo in Ritual- und Technikschulung zielt nicht auf den Sieg über andere, sondern über sich selbst. Dennoch hat der Sport aus der „Kampfkunst als Lebensschule“ eine rein aufs Außen (messbare Leistung) zentrierte, oberflächliche Wettkampf- oder banale Freizeitsport-Ideologie werden lassen und Budo seiner Seele beraubt. „Höher, schneller, weiter“ war nie die Idee des Budo, sie steht im völligen Widerspruch…

Beim Budo im Sport und dementsprechend eben Kampfsport wird der Körper gedrillt, gequält und verschlissen, um besser zu sein als die Gegner (die auch womöglich im Kampf gedemütigt oder gar verletzt werden) – im Budo als Kampfkunst wird der Körper zum Instrument der Erziehung des Selbst gepflegt und gesundgehalten, um mit hilfreichen und nicht konkurrierenden Partnern (als „Supervisoren“) gemeinsam zu üben, eigene Schwächen zu besiegen.

Rituale im Budo haben also konkret erzieherischen Charakter. Sie sind Methoden, die Ausübenden („Weg-Schüler“) in Theorie und Praxis mit den Inhalten und Zielen vertraut zu machen, sie fortwährend daran zu erinnern und systematisch zu schulen, sie als ihre eigenen anzuerkennen und zu übernehmen und im tuenden Bekenntnis zu „vertreten“.

(Selbst)-Erziehung zur Selbstbeherrschung

Erziehung und Selbsterziehung durch regelmäßiges Üben im Vollzug der Rituale leistet jenes „Psychotraining“ iii, das die Gewinnung von Selbstbeherrschung (v.a. der Emotionen) der Körperbeherrschung bzw. Ausbildung von effektiver Kampftechnik nicht nur permanent begleitet, sondern erst moralisch legitimiert. Die parallel zur technischen Meisterschaft zu entwickelnde und wachsende Ruhe, Gelassenheit, Absichtslosigkeit und das Gewahrsein eigener Schwächen (Angst und Wut) sowie die innere Verpflichtung zum Gewaltverzicht ist es, die den „Friedvollen Krieger“ im Unterschied zum sportlichen (martialischen) Wettkampfmeister begründet und verhindert, dass rein technische Überlegenheit aggressiv ausgenutzt wird.

Die auf den Zenbuddhismus zurückgehende moralisch-ethische („geistige“) Ausbildung steht im Budo an erster Stelle iv. Neben den alten Meistern und Urvätern der Budodisziplinen, wie Ueshiba fürs Aikido oder Kano fürs Judo hat auch der Begründer des Karatedo, Funakoshi, als für das rechte Verständnis der Kampfkunst als „Charakterschule“ entscheidend gelehrt, dass die „Geistesschulung wichtiger als die Technik“ anzusehen sei. Die Groß- und Lehrmeister der Originale verwiesen stets auf die Bedeutung der Entwicklung des „reinen“ (friedvollen) Geistes durch Einübung der „tugendhaften“ inneren und äußeren Haltung. Diese Einübung vollzieht sich in der Ritualpraxis des Budo.

Die Etikette, die den formal-organisatorischen Rahmen in jedem Budo-Dojo bildet, beinhaltet diverse Regeln (Konventionen von Sauberkeit, Ordnung und Höflichkeit) und komplexe Rituale, die die Gemeinschaft der Gleichgesinnten und jeden Einzelnen auf dem Weg stabilisieren und fördern. Sie geben (außer der besonderen Atmosphäre) Sicherheit, stiften sinngebend Orientierung, bekräftigen und befeuern Motivation, bestätigen und belohnen Fortschritt. Sie knüpfen Bande zwischen den Schülern, zwischen Schülern und Meistern „von Herzgeist zu Herzgeist“ (Ishin-denshin), zwischen Budo-Studium, -Arbeit und Ideal, zwischen Theorie und Praxis.

Fazit: Pädagogik durch Budo

Rituale sind der Motor für die im Budo propagierte Persönlichkeitsentwicklung – und ihr Garant.

Die Pädagogik im Budo wird zur Pädagogik des Budo, zur Pädagogik durch Budo. In der erziehungswissenschaftlich fundierten „Budopädagogik“ v und „Budotherapie“ vi wird ihr besonderes positives Wirken professionell nutzbar gemacht, mit Erfolg.